Leseprobe
Erster Brief
Geliebter Bruder,
mein letzter Brief, den ich auf meiner Insel geschrieben hatte, wird Dich wohl nie erreichen, denn ich habe ihn bei meinem Aufbruch dortselbst zurückgelassen. Nun, da ich gerettet bin, habe ich die Hoffnung, dass diese Zeilen die ersten sein werden, die Du nach langer Zeit von mir lesen wirst. Dabei hoffe ich tief in meinem Herzen, dass auch Du gerettet wurdest, werde aber meine Suche nach Dir so lange fortsetzen, bis ich darob Sicherheit habe, und freue mich schon sehr auf ein Wiedersehen mit Dir. Wir werden uns viel zu erzählen haben, deshalb beginne ich schon jetzt, meine Erinnerungen festzuhalten, damit ich auch nichts von dem vergesse, was mir an seltsamen Dingen widerfahren ist.
Nachdem ich mich mit meinem Floß von meinem Eiland abgestoßen hatte, setzte ich Segel und nahm Kurs Ost-Nord-Ost. Alsbald geriet ich in einen dichten Nebel und konnte die Hand nicht mehr vor den Augen sehen. Der Nebel hielt mich über Tage, wenn nicht über Wochen gefangen, und ich dankte dem Herrn, unserem Schöpfer, dass ich genug Wasser und Kokosnüsse mit an Bord genommen hatte. Nach einer Ewigkeit, während der ich an der Richtigkeit meines Planes zu zweifeln begann, sah ich in der Ferne am Horizont ein Schiff. Die armen Teufel schienen schwer beschossen worden sein, denn Segel und Masten waren heruntergerissen. Achtern war noch der Stumpf eines großen Mastes auszumachen, aus dem schwarzer Rauch quoll. Der Überfall konnte noch nicht lange her sein und war sehr wahrscheinlich die Tat ruchloser Piraten. Doch je näher das Schiff kam, desto erstaunter war ich über seine Ausmaße und mir war schnell klar, dass dieses das größte Schiff war, welches mir je zu Augen gekommen war. Heute weiß ich, es misst in der Länge über 900 Fuß und ist so hoch wie 20 Häuser in unserem geliebten London.
Überhaupt schien das Schiff von seltsamer Konstruktion. Ich zählte 70 Kanonenluken, kreisrund und mit Glas verschlossen. Zunächst verstand ich den Sinn nicht, doch dann wurde mir klar, dass die verschlossenen Luken auch bei schwerster See ein Eindringen der Wasser verhindern sollten. Über den Kanonenluken waren Balkone angebracht. Ja, Balkone, wie wir sie von prunkvollen Kaufmannshäusern kennen. Ich erschrak: sicherlich ein Sklavenschiff auf der Fahrt zu neuer Ladung. Denn für wen sonst konnten diese kleinen Verschläge gebaut worden sein außer für Sklaven. Draußen, der Brise und der Sonne ausgesetzt, hatten auf diesen Balkonen vielleicht 15 dieser armen Menschen Platz. Wie eng musste es dann erst im Inneren des Schiffes zugehen?
Was mich zudem erstaunte, war die große Zahl der Beiboote. Ich zählte gleich zehn an der einen Seite. Vielleicht doch ein Walfänger? Das würde auch die enorme Größe des Kolosses erklären.
Die Wände des Schiffes waren so fein gearbeitet, dass man die einzelnen Planken nicht unterscheiden konnte. Zum Schutz gegen den gefürchteten Bohrwurm hatte man das Schiff gekälkt, doch ich wunderte mich, dass der strahlend weiße Kalk von der Gischt noch nicht abgewaschen worden war.
Trotz der imposanten Größe des Schiffes schien die Besatzung Angst vor Seeungeheuern zu haben. Denn sie hatten auf die Kalkschicht seltsame Figuren und Dämonen gemalt, die in der Tat gut dazu taugten, auch die grässlichsten Geschöpfe der Hölle zu vertreiben. Nur vor den Piraten hatten sie sich nicht schützen können.
Doch bevor ich weiter mutmaßen konnte, war ich auch schon entdeckt worden, und das Schiff, oder sollte ich lieber von einer schwimmenden Stadt reden, trieb wie von Geisterhand geführt auf mein Floß zu. Auf dem Oberdeck konnte ich die ersten Menschen ausmachen, deren Anblick meiner Vermutung, das Schiff sei überfallen worden, neue Nahrung gab. Denn die armen Kreaturen waren fast nackt. Die gottlosen Piraten hatten nicht nur ihr Schiff zerstört, sondern sie auch noch all ihrer Kleidung beraubt. Nur einige wenige trugen noch Hemd oder Hose, aber auch diese Kleidung schien nicht die ihre zu sein, denn sie lag so eng am Körper an, dass ich annahm, sie war mit Sicherheit die Leihgabe eines anderen.
Plötzlich öffnete sich mitten im Schiffsbauch eine Luke, man warf eine Leiter hinunter, und ich paddelte, so schnell ich nur konnte, auf das Schiff zu. Ich kletterte die Leiter hinauf und wurde von zwei Chinesen, die mit einem Hemd mit Hosenbeinen bekleidet waren, an Bord gezogen. Als ich aufschaute, standen würdevoll zwei Männer vor mir, in weißer, zu enger, deshalb wohl geliehener Kleidung, auf der sie notdürftige Epauletten zur Kennzeichnung ihres Ranges angebracht hatten. Einer der Männer hielt mir die Hand hin und sagte: „Herzlich Willkommen an Bord der MS Dekadenzia, Sie sind jetzt in Sicherheit.“ So gern ich diese Worte auch glauben wollte, hatte ich doch das ungute Gefühl, dass ich nun in noch größeren Schwierigkeiten war als zuvor.
In Liebe, Dein Charles